Griechenland: Historisches Ergebnis führt zu zweiter Wahl

Kommentar

Die Parlamentswahl vom 21. Mai mit einem historischen Sieg der konservativen Nea Dimokratia scheint die politische Landschaft des Landes neu zu ordnen. Michalis Goudis, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Thessaloniki, kommentiert das Wahlergebnis.

Griechisches Parlament
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Das griechische Parlament.

Die Parlamentswahl vom 21. Mai 2023 wird als ein sehr bedeutsames Kapitel in die Wahlgeschichte Griechenlands eingehen, da es sich um den deutlichsten Sieg einer Partei in der modernen Geschichte des Landes nach der Militärdiktatur, der so genannten „Metapolitefsi“-Zeit (1974), handelt. Es war auch das erste Mal, dass es einer Regierungspartei gelang, ihre Popularität zu steigern. Die konservative Nea Dimokratia (ND) und ihr Vorsitzender Kiriakos Mitsotakis waren von ihrem eigenen Erfolg überrascht, denn sie erhielten 40,79 % der Stimmen und ließen die linke Oppositionspartei SYRIZA mit 20,07 % über 20 Prozentpunkte hinter sich. Dennoch bereitet sich Griechenland auf eine weitere Wahlrunde vor, die wahrscheinlich am 25. Juni stattfinden wird, da die Bildung einer Regierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist.

Ein Triumph, aber keine Regierung

Nach dem Wahlsystem der einfachen Verhältniswahl, das für diese Wahl galt, kann eine Partei nur dann eine parlamentarische Mehrheit erlangen, wenn sie einen Prozentanteil von annähernd 50 % der abgegebenen Stimmen erhält. Da die Nea Dimokratia in ihrem Wahlkampf klar zum Ausdruck gebracht hatte, dass ihr Ziel darin besteht, eine Regierung ohne Koalitionspartner zu bilden, um „mehr Stabilität“ zu erreichen, versteht sie das Wahlergebnis als Mandat für eine zweite Wahl, die nach dem erweiterten Verhältniswahlrecht abgehalten wird, das die Partei mit den meisten Stimmen stärkt.[1]

In dieser zweiten Wahl wird es der ND höchstwahrscheinlich möglich, die absolute Mehrheit zu erreichen. Ministerpräsident Mitsotakis gab noch am selben Tag das Sondierungsmandat zur Regierungsbildung an die griechische Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou zurück. Die griechische Verfassung sieht vor, dass den drei stärksten Parteien jeder Wahl drei Sondierungsmandate zur Regierungsbildung übertragen werden. Der Vorsitzende von SYRIZA, Alexis Tsipras, versuchte ebenfalls nicht, davon Gebrauch zu machen, und akzeptierte seine klare Niederlage, nachdem er während des Wahlkampfes zu einer „progressiven Regierung“ aufgerufen hatte. Schließlich gab auch Nikos Androulakis von der sozialistischen Partei „PASOK“ das Mandat an die Staatspräsidentin zurück. Die festgefahrene Situation soll nun mit einer zweiten Parlamentswahl aufgelöst werden.

Obwohl in der öffentlichen Debatte die Meinung weit verbreitet ist, dass nach diesem Ergebnis ein erneuter Gang zu den Wahlurnen vernünftig ist, muss man sich fragen, ob die Wähler*innen diese Ansicht teilen. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 61 %, höher als 2019. Niemand kann sicher sein, dass sich dies bei einer Wahl wiederholt, die inmitten des griechischen Sommers stattfinden wird, in dem Tausende Saisonarbeiter*innen nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, weil sie sich nicht an ihrem registrierten Wohnort aufhalten werden und es in Griechenland keine Möglichkeit der Briefwahl gibt. Die politische Landschaft in Griechenland ist traditionell von der Dominanz zweier großer Parteien geprägt (entweder ND und PASOK oder ND und SYRIZA im letzten Jahrzehnt), eine Tatsache, die wiederholt zu Regierungen mit absoluter Mehrheit führte. Koalitionsregierungen sind eine Ausnahme und wurden vor allem in Zeiten politischer Turbulenzen (1989) oder während der Finanzkrise geschlossen.

Da der Wahlkampf eher ruhig und inhaltsarm verlief, drehte sich die öffentliche Debatte in Griechenland nicht um die großen Fragen unserer Zeit, wie die Klimakrise, wirtschaftliche Ungleichheiten oder künstliche Intelligenz, sondern war eher selbstreferenziell. Verfolgt man die öffentliche Debatte in den Mainstream-Medien in Griechenland, so wird deutlich, dass Stabilität gleichgesetzt wird mit einer starken absoluten Mehrheit einer Partei – obwohl das Land eine lange Finanzkrise überwunden hat, auf die die Pandemie und die Folgen des Krieges in der Ukraine folgten, die de facto zu einer Zusammenarbeit zwischen den Parteien geführt haben, wenn man sich die verabschiedeten Gesetze ansieht.

Umstrukturierung der politischen Landschaft?



Viele Kommentator*innen in Griechenland behaupten, dass diese Wahl das Ende des politischen Krisen-Zyklus darstelle, in dem SYRIZA zur wichtigsten Oppositionspartei aufstieg und PASOK sich praktisch aufgelöst hatte. SYRIZA verzeichnete einen Rückgang der Popularität von 31,53 % im Sommer 2019 auf nun knapp über 20 %. Gleichzeitig gelang es der PASOK, nach vielen gescheiterten Versuchen seit 2012, erneut zweistellige Zahlen zu erzielen. Könnte dies der erste Schritt zu einer größeren Verschiebung im Oppositionsspektrum sein? Der Wahlgang vom 25. Juni wird dies zeigen. Auf jeden Fall ist SYRIZA nun mit internen Fragen konfrontiert, die von einer Fehleranalyse in der Wahlkampfstrategie bis hin zur Führungsfrage reichen. PASOK scheint an Fahrt zu gewinnen und präsentiert sich im Vergleich zu SYRIZA als „systemrelevantere“ Oppositionspartei, was durch die Tatsache bestärkt zu werden scheint, dass es ihr gelungen ist, SYRIZA in sechs Wahlbezirken zu überholen und sich im Vergleich zu 2019 insgesamt 220.000 zusätzliche Stimmen zu sichern.

Da die Nea Dimokratia in 53 von 54 Wahlbezirken unangefochtene Wahlsiegerin ist, sind die Herausforderungen für die Opposition immens. Dabei muss betont werden, dass die ND auch in Bevölkerungsgruppen den ersten Platz belegte, bei denen das traditionell bisher nicht der Fall war, wie z.B. bei der Altersgruppe der 17- bis 24-Jährigen, die die ND mit 31,5 % wählte (SYRIZA: 28,8 %, PASOK: 10,5%).

Eine zentrale Frage für die Demokratie in Griechenland ist: Kann aus den Ergebnissen vom 21. Mai in absehbarer Zeit eine bedeutende und relevante Opposition hervorgehen? Dies bleibt abzuwarten. 

Da die Bindungen zwischen Parteien und Wähler*innen im Vergleich zur Vergangenheit immer lockerer werden, kann sich niemand sicher sein, wie das Ergebnis der zweiten Wahl ausfallen wird. Auch der Ausgang der im Oktober anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen ist offen. 16 % aller am vergangenen Sonntag abgegebenen Stimmen gingen an Parteien, die an der 3 %-Hürde scheiterten. Dies ist das zweithöchste Ergebnis aller Zeiten. Wie werden sich diese Wähler*innen in ein paar Wochen verhalten? Wie viele Parteien werden tatsächlich im griechischen Parlament vertreten sein? Eine alarmierende Tatsache ist, dass die extreme Rechte auf dem Vormarsch zu sein scheint, wenn man nicht nur die Stimmen der „Elliniki Lisi“ (Griechische Lösung: 4,6 %) berücksichtigt, sondern auch die Stimmen für neu gegründete Parteien wie „Niki“, die fast die 3 %-Hürde erreicht hat. Dieser Trend darf nicht unter dem Radar bleiben.

Dieser Artikel erschien zuerst hier.


[1] Nach diesem System erhält die erste Partei einen Bonus von 20 Sitzen, wenn sie mehr als 25 Prozent der Stimmen erhält. Dieser Bonus steigt mit dem Stimmenanteil der Partei, bis zu einem Maximum von 50 Bonussitzen für Parteien, die 40 Prozent der Stimmen erhalten.